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Vortrag: Latein als 2. Fremdsprache
Ist Latein die späte Rache der Römer an uns Germanen?
Ganz sicherlich dann, wenn Wichtigeres auftaucht als lästige Vokabeln oder ätzende Grammatik. Latein teilt das Schicksal von Schule, wenn die Freundin im Kopf herumspukt oder die Shoppingtour lockt. Oder man sich eine Auszeit nimmt. Latein gibt sich dann ebenso beleidigt wie der Computer, der es auch nicht mag, wenn man seine Signale nicht kennt oder aber elegant zu überspringen versucht. Denn er will, dass man ihn liest. Dass man seine Zeichen erkennt, dass man sie zuordnet, versteht, schließlich diese Zeichen selbst anwendet. Wer nicht weiß, wofür „Login“ da ist, kommt nicht an die e-mail, oder? Und wenn man die Web-Seiten kennt, erschließt sich eine ganze Welt.
Wir lesen ebenso. Erlernen wir gemeinsam Latein ab der 7. Klasse, dann lässt uns das natürlich mehr Zeit dazu. Entscheiden wir uns für Latein ab Klasse 9 — wenn es denn stattfinden sollte — wird alles natürlich sehr viel kompakter und gedrängter. Wir lesen: Was heißt das? Wir sind Detektive. Wir stürzen uns auf Spuren und Indizien. Wir lesen sie, d. h. wir erkennen die Signale, die uns der Text bietet, untersuchen und ordnen sie, um sie im letzten Schritt zu beurteilen. So enttarnen wir den Text, oder — wie die Wissenschaftler sagen — wir dekodieren ihn. Diesen Code übertragen wir dann in unsere Sprache Deutsch. Übertragen bedeutet, ebenso genau, korrekt und treffsicher zu sein. Die Information muss deutsch werden, um verstanden zu werden. Wir entschlüsseln also die Botschaft und machen sie bestmöglich für uns zugänglich und verwertbar. Das tun Agenten, Geschäftsleute, Wissenschaftler und auch Zeitungsleser. Hinter allem steht die Pflicht zur Genauigkeit. Ziel: das Textverständnis. Damit erwerben und üben wir die LESEFÄHIGKEIT, ein Reizwort seit PISA, das eben nicht bedeutet, Wörter zu entziffern, sondern einen Text wirklich zu LESEN, ihn zu entschlüsseln.
Bei diesem Schritt stellen wir unsere Deutschkenntnisse auf den Prüfstand und lernen gegebenenfalls hinzu. Dabei hilft uns ungemein, dass Latein nicht mehr gesprochen wird. Seine Informationen sind unveränderlich. Es bietet nicht an: das Buch von der Anne, von Anne das Buch, dem Anne sein Buch, der Anne ihr Buch. Es bietet den Genitiv und sein Signal, und dieser antwortet auf unsere Frage „wessen“. Basta. Wie übertragen wir ins Deutsche? Natürlich ebenfalls mit dem Fall, den das Deutsche fordert. Und das ist ebenfalls der Genitiv: ANNES BUCH. Jetzt haben wir dekodiert und transferiert, also entschlüsselt und übertragen. Und im Zweifelsfall gelernt, wie es korrekt und für alle Landstriche verbindlich hochdeutsch heißt.
Warum also sprechen wir nicht Latein im Unterricht? Die Antwort lautet: Weil es uns nicht weiterbringt! Englisch, Französisch und Japanisch lernen wir, um es sprechen zu können. Das zu erreichende Ziel des Unterrichts dort ist, in der entsprechenden Sprache zu denken und zu reden: Das Deutsche muss unbedingt und vollständig ausgeklinkt werden: Wenn wir Englisch sprechen, dürfen wir nicht deutsch klingen. Wir nennen diese Fähigkeit die Sprechfähigkeit. Dennoch helfen wir mit dem Lateinlernen diesen Sprachen, auch wenn wir Latein nicht sprechen wollen. Die Tochtersprachen Französisch, Italienisch, Spanisch, Portugiesisch — Rumänisch übrigens auch -‚ haben fast hundertprozentig die lateinischen Gene. Mit Lateinkenntnissen kommt man also in diesen Sprachen dann schneller zur Sprechfähigkeit. Und wenn wir z. B. „animal“ lesen und darin das lateinische „animal“ erkennen, sagen wir Hallo zur englischen Sprache und sehen, dass sich hier immerhin 50% der lateinischen Gene durchgesetzt haben. Latein verhilft also, wird es zuerst gewählt, bei Tochtersprachen in Vokabular und Grammatik zu Verständnis.
Unser Ziel im Lateinunterricht hingegen ist, Antworten zu finden auf die Frage: Was ist Sprache? Wie funktioniert sie? Wozu dient sie? Wir erstreben nicht die Sprech-, sondern die Sprachfähigkeit.
Mit der zweiten Säule unseres Unterrichts verfolgen wir eine zweite, mindestens ebenso wichtige Spur. Denn durch unser Lesen, Lesen und nochmals Lesen tauchen wir ein in eine anfangs fremde Welt mit einer Fülle von Informationen: Die nächsten Spuren und Fährten warten auf ihren Entdecker. Anfangs, in der 6. Klasse, lesen wir von den Erlebnissen und den kleinen und großen Freuden und Sorgen einer römischen Familie. Wir lesen über Essen (bereiten es auch selber zu bzw. probieren es), wie lesen über Wohnen, über Familienleben, über Schule und Unterricht und auch über Freizeitbeschäftigungen, wie z. B. Wagenrennen im Circus Maximus. Wir lesen, wie die Schüler ihrem Lehrer einen Streich spielen. Wir lesen über das Leben der Familie auf dem Lande und die Erfahrungen, die sie in der Weltstadt Rom machen, in der manchmal Smog herrscht, die überfüllt ist von Menschen, die ihre Probleme mit Immigranten hat, die ein Heer von Sklaven beschäftigt, in der es mit dem Colosseum Unterhaltungsprogramme gibt, die wir nur zum Teil gutheißen können. Und unversehens sind wir mitten drin und führen diese Anfänge auch in der 8. Klasse fort: Wir prüfen, vergleichen und werten die Informationen aus. Wir setzen diese römische, antike Welt gegen unsere. Wir spiegeln sie und kontrastieren sie. Wir üben, Kritik zu üben, und je mehr wir erfahren, je mehr wir analysieren und vergleichen, umso mehr werden wir fähig zu Kritik, zu Pro und Contra und zum eigenen Vorschlag. Dies ist die heutzutage als eines der Hauptziele überall eingeforderte Kritikfähigkeit.
Mit der gedanklichen Auseinandersetzung eng verbunden ist die Kreativität, ein zweites Hauptziel. Im Anfangsunterricht kann das heißen, wie in diesem Jahr in der Klasse 8 durchgeführt, dass wir ein Projekt über Ostia, den Hafen Roms, gestalten oder dass wir, wie ebenfalls durchgeführt, in der Weihnachtszeit das römische Saturnalienfest kennen lernen, - ein ganz anderes Fest, das die Römer im Dezember feierten. Wir lesen darüber, analysieren und vergleichen es und stellen fest: Stopp, ist das nicht so etwas wie der rheinische Karneval? Wir informieren uns weiter und bringen letztendlich diesen Kontrast plus Gemeinsamkeit spielend in unserer Gegenwart, der Schule, gemeinsam unter; spielend heißt hier: durch eine Theaterszene, die wir bei einer gemeinsamen Feier mit den Eltern aufgeführt haben. Diese Kreativität hat nichts mit Basteln zu tun, dafür aber sehr viel mit Lesen, Lernen, Vergleichen, Werten, Weiterdenken. Ein anderes Beispiel für diese Form der Kreativität und Kritikfähigkeit bereits in den ersten Lernjahren ist die von der Latein-AG erstellte Zeitung (wer will, kann noch einige Exemplare nachher bei den Schülern zum Selbstkostenpreis erwerben). Ihr Thema war Naturkatastrophe am Beispiel des Vesuvausbruchs bei Pompeji und die Frage, was hätte in einer lateinischen Zeitung stehen können, die drei Tage nach dem Ausbruch erschienen wäre. — Keine Angst, nur wenige Artikel sind auf Latein geschrieben, auch findet sich neben Ernstem auch Witziges. Das Interesse, der Einsatz und das Durchhaltevermögen meiner Schüler erfüllen mich mit Stolz — wie auch das Ergebnis. Unser derzeitiges Projekt ist „Römer bei uns“ und beschäftigt sich mit Mainz und Trier, das wir gerade auf einer Klassenfahrt besucht und untersucht haben. Also auch für Lateinschüler gibt es genug in unserer Gegend zu entdecken — genug für die übliche Fahrt.
Ende der 9. oder in der 10. Klasse werden wir dann zum allseits bekannten Caesar kommen. Der Spracherwerb wird beendet sein. Jetzt dient das, was wir bisher an Vokabeln und Grammatik gelernt haben, in hervorragender Weise dazu, uns den Einstieg in und das Erlernen von Französisch oder Spanisch leichter zu machen. Wir widmen uns der 2. und auch schon 3. Säule. Jetzt sind wir sozusagen im Internet. Ich lese diesen Autor so, wie ich es bisher beschrieben habe. Meine Schüler, die mit mir den Weg gegangen sind, fragen sich jetzt mit mir z. B.: Warum ein Krieg? Mit welchen Strategien versucht uns Caesar seine Feldzüge als gerechtfertigt zu verkaufen? Kann er uns aufs Kreuz legen oder durchschauen wir seine Argumentationen und Signale, mit denen er uns zu lenken versucht? Wir spiegeln und kontrastieren uns, unser Umfeld, unser Europa mit der Welt und den Vorstellungen und der Sprache, die uns so weit weg und so fremd — vielleicht deswegen auch so uninteressant erschienen war. Und unser Suchen nach Antworten, unsere Vergleiche mit der Gegenwart, unsere Erwartungen an die Zukunft erhalten, wenn wir uns darauf einlassen, erstaunliche Präzision und Aktualität. Wir werden weiterhin Reporter, Detektive und Berichterstatter bleiben, denn auch der gallische Krieg wird einer Klassenzeitung zum Opfer fallen, die wir, wenn alles gut geht, ins Internet stellen werden. Wer übt dann Rache an wem? Wir werden es sehen!
Die letztendlich für die Studierfähigkeit entscheidende Phase wird der Oberstufenunterricht sein. Und ich ermuntere jeden, nicht frühzeitig abzuwählen, sondern hier am Ball zu bleiben. Rom ist auch nicht an einem Tag erbaut worden, kann aber gern von uns besucht werden! Oberstufe, das heißt für mich „Europa“. Latinum heißt für mich, aber vor allem für die Universität: Formal eine Zulassung, aber eigentlich: Kreativität und Wendigkeit auf der Basis von Wissen. Wir lesen in der Oberstufe Cicero und damit von Demokratie, Politik, Redefreiheit, Redekunst. Wir lernen oder bestätigen, dass der, der etwas bewirken, etwas verändern oder etwas bewahren will, sich nicht scheuen sollte, für sich und andere Verantwortung zu übernehmen, sich einbringen sollte, kreativ wirken sollte. Wir lesen über und von Augustus und setzen uns mit dem Friedensbegriff, aber auch mit Weltmachtpolitik und mit den Wurzeln europäischen Denkens und Handelns auseinander. Denn hier war Rom Weltmacht; es hatte nahezu ganz Europa zu organisieren. Es schuf unsere gemeinsamen Wurzeln. Wir lesen Seneca, den großen Philosophen, und debattieren mit ihm über Liebe, Menschlichkeit, Gerechtigkeit, Verzicht. Wir lesen von Karl dem Großen und seinem politischen und christlichen Europa, und wir lesen Erasmus von Rotterdam und hören von seinem humanistischen Europa. Wir lesen Dichter, die das Denken, die Kultur und die großen Persönlichkeiten Europas prägten. Wir lernen, in Museen Bilder und Skulpturen zu verstehen und einzuordnen.
Indem ich den Bogen spanne von den Wurzeln zur Gegenwart, mache ich mich fähig für die Zukunft. Ich begreife, wer ich bin, woher ich komme, wohin ich gehe. Indem ich lese, vergleiche, kontrastiere, mich distanziere oder identifiziere. Keine nostalgische Schwärmerei, nicht ewig gestrig oder, noch schlimmer, gleichgültig: Nein: offen, kritisch und, wenn es sein muss, unbequem.
Diese Säule hat sicherlich eher Sie Eltern als Euch Schüler interessiert. Und deshalb wende ich mich noch einmal ausdrücklich an euch Schüler, von denen ich hoffe, dass auch ihr all dies werden wollt: offen, kritisch, unbequem. Wir laden euch ein zu Latein: Lasst euch bei eurer Entscheidung nicht beirren von „altmodisch, tot oder total schwierig“. Ich glaube, ich bin weder altmodisch noch tot, und ich habe schon ab der 5. Klasse Latein und ab der 9. Klasse dann Griechisch gelernt. Und Freundinnen habe ich auch nicht verloren, weil ich Latein gemacht habe. Ebenso wie meine Freundinnen wusste ich, was ich wollte. Ich wollte Englisch lernen, um mich in der ganzen Welt problemlos verständigen zu können, und ich wollte die alten Sprachen, um den Dingen auf den Grund zu gehen. Überlegt ihr euch genau, was ihr wollt. Macht mit, wenn ihr neugierig seid. Wenn ihr euch gerne in etwas hinein beißt. Macht mit, wenn ihr euren Eltern gern Löcher in den Bauch fragt und Antworten bekommen wollt. Wenn ihr euch für Geschichte und Geschichten interessiert. Macht mit, wenn es euch mit dem Reden in Englisch manchmal zu schnell geht oder ihr euch nicht so gerne Englisch sprechen hört. Und macht unbedingt mit, wenn ihr den Dingen auf den Grund gehen wollt. 750000 Schüler probieren das im Moment aus — ich hoffe, ihr schließt euch an!
Zum Schluss zeigt euch meine Klasse die Szene, die wir entwickelt haben. Wie bei den Saturnalien und ähnlich wie im Karneval nehmen sie ihre Autoritätsperson, nämlich mich, ganz schön auf die Schippe!
Für Fragen stehe ich nachher noch zur Verfügung. Vielen Dank.
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